Vincenzos Meisterstück, die Lambda, debütierte 1922 und revolutionierte die Autoindustrie mit einer selbsttragenden Karosserie und vorderer Einzelradaufhängung.
Aufgrund von Erfahrungen und Weiterentwicklungen der Lambda brachte Lancia etwas später weitere Luxus-Limousinen wie die Dilambda, Astura, und Artena auf den Markt und mit der Augusta schließlich auch den ersten Kleinwagen mit selbsttragender Monocoque-Karosserie. Alle basierten sie auf dem ersten Meisterstück, sahen der Lambda sehr ähnlich und legten die Messlatte auf ein bis dato unerreichbares Niveau.
1934 will Vincenzo die Lambda-Konzeption durch etwas völlig Neues ersetzen. Und zwar durch einen modernen und sparsamen Kleinwagen mit maximalem Platzangebot: Das Auto soll nicht länger als 4 Meter und selbsttragend sein, genügend Platz für 5 Personen bieten, nicht mehr als 500 kg wiegen und eine möglichst aerodynamische Form besitzen. Keine leichte Aufgabe für seine Ingenieure. Aber Chefingenieur Battista Falchetto bringt tatsächlich, inspiriert vom Rumpler Tropfenwagen und Castagnas Aerodinamica (Alfa Romeo), ein solches Auto zu Papier. Es folgen Plastilin- und Holzmodelle, die solange überarbeitet werden, bis Vincenzo mit dem Design zufrieden war und es 1935 patentieren lässt. Forschungsarbeiten am Politecnico di Torino führen schließlich zur endgültigen Form mit einem revolutionären Luftwiderstandbeiwert von cw = 0,47.
Das Gesicht des Wagens wird von einem kantigen Kühlergrill bestimmt, die Scheinwerfer sind in die Kotflügel eingefügt und die glattflächige Karosserie mit geneigter Frontscheibe und Fließheck entsprechen den Forderungen der Aerodynamik. Der lange Radstand mit wenig Überhang vorne und hinten gibt dem Wagen Proportionen, die noch heute überzeugen. Die zueinander schließbaren Türen („Schranktürmanier“) bieten bessere Zugänglichkeit in den luxuriösen Innenraum. Der Ästhetik zuliebe lässt Lancia die Vorderkannte der Vordertür nicht gerade, sondern gebogen gestalten, um sie in der Form der Dachwölbung anzupassen. Doch die Ingenieure finden hierfür keine Lösung und sind auf die Hilfe der Scharnierlieferanten angewiesen, die schließlich eine von außen unsichtbare Lösung mit schrägen Kugelzapfen finden.
Zu der Einzelradaufhängung der Vorderachse, die Lancia bereits mit der legendären Lambda einführte, kommt nun auch eine Hinterradführung mit unabhängig aufgehängten Rädern hinzu. Die Längslenker sind mit einer mittig am Differenzial befestigten Querblattfeder verbunden, zwei Torsionsstäbe liegen quer unterm Fahrzeugboden. Ähnlich also wie bei einer De Dion-Achse. Die hydraulischen Bremstrommeln sind nach innen ans Differential verlegt, um das Gewicht der ungefederten Massen der Achsaufhängung noch mehr zu verringern. Auch wenn es ein ziemlich aufwendiges und kostspieliges System ist, ist dieser Lancia eines der ersten Autos der Welt mit vier unabhängig aufgehängten Rädern.
Der Motor ist ein weiterentwickelter Vierzylinder in Lancia-typischer enger V-Anordnung mit zentral obenliegender Nockenwelle, der Hubraum beträgt 1351,6 ccm und die Leistung liegt bei 47,8 PS. Die Aerodynamik und das geringe Gewicht bringen diesen Kleinwagen bei hervorragender Beschleunigung auf erstaunliche 125 km/h Höchstgeschwindigkeit. Damit gehört man 1936 in Europa zu den Schnelleren in der Mittelklasse.
Die Entwicklungsarbeiten sind zu Ende und Vincenzo beendet seine erste Probefahrt mit den Worten: „Welch ein phantastisches Auto.“ Doch leider kann Vincenzo dieses gelungene Produkt nicht genießen, denn bevor der erste serienmäßig hergestellte Wagen das Werk 1937 verlassen kann, stirbt Vincenzo am 15. Februar 1937 an einem Herzinfarkt. Zum Glück hat sein Tod keine negativen Folgen für die Firma. Die Firma bleibt im Familienbesitz und die Arbeiten an dem zukunftweisenden Auto gehen weiter. Die Lambda war Vincenzos Meisterwerk und mit diesem Wagen beschert er der Welt noch einmal ein solches Meisterstück.
Im Herbst 1936 debütiert diese kleine Lancia auf der Pariser Automobilausstellung unter dem französischen Namen „Ardennes“, da er in Frankreich in Lizenz hergestellt wird, und ruft wie schon die Lambda vor ihr helle Begeisterung hervor. Auf den nachfolgenden Automobilausstellungen von London und Mailand wird diese letzte innovative Kreation Vincenzos unter dem Namen APRILIA vorgestellt.
Die Serienfertigung der Aprilia beginnt im Frühjahr 1937 mit einer Limousine in Standardausführung: schlichtes Armaturenbrett, Rundinstrumente, ein schwarzes Dreispeichenlenkrad, aber ohne Trittbretter. Die anvisierten 500 kg erweisen sich zwar als unerreichbar, doch die 880 kg des Serienmodells sind für eine Limousine mit fast 2,8 m Radstand und 1400 ccm doch sehr beachtlich. Typisch für alle Aprilias ist eine etwas ungewöhnliche Kraftstofftankanzeige. Durch einen Druckknopf aktiviert, zeigt sie mittels einiger Leuchten den Kraftstoffvorrat an. Der Standardlimousine folgt bald eine Lusso-Version mit Trittbrettern, rechteckigen Armaturen samt Uhr und einem Lenkrad mit Stahlspeichen.
Nach ca. 9000 gefertigten Aprilias ist es 1939 höchste Zeit, Detailmängel zu beheben. Eine zweite Serie entsteht. Diese erscheint mit einem größeren Hubraum (1486 ccm) doch die Leitung von 48 PS bleibt fast unverändert. Eine italienische Sabif-Bremsanlage statt dem Lockheed-System, stromlinienförmigere Kotflügel, serienmäßige Trittbretter, andere Räder, eine leicht veränderte Instrumententafel und ein leicht gewölbter Kühlergrill sind einige Details, die verbessert wurden.
Der Zweite Weltkrieg unterbricht die Produktion und das italienische Militär nutzt das Chassis für vorgeschriebene Militärkarossen wie z.B. der Lancia Aprilia Coloniale von Viotti.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Aprilia, obwohl sie da schon fast 10 Jahre alt ist, wieder gebaut. Viele andere Automobilhersteller kämpfen mit veralteter Technik. Aber Lancia hat den Vorteil, dass die Aprilia schon Ende der 30er Jahre ein überaus modernes Fahrzeug war, und so wird die Produktion 1946 mit Ausnahme einer Änderung, einer 12 Volt-Anlage, unverändert wiederaufgenommen. Lancia kann am Erfolg vor dem Krieg anknüpfen, aber 1949 war es dann doch Zeit für einen weiteren technischen Fortschritt.
Natürlich zeigen in dieser Zeit auch Karosseriebauer großes Interesse und arbeiten mit der Aprilia. Es entsteht eine breite Palette von unterschiedlichen Designs – unter anderem von Pinin Farina, Bertone, Ghia, Touring, Balbo, Boneschi und Zagato. Tuning-Firmen wie Abarth, Nardi und Pagani bieten leistungssteigerndes Zubehör für Straße und Rennstrecke an, so dass bis zum letzten Tag die Aprilia in ihrer Klasse eine respektable Position hat. Bei Rennen, hauptsächlich von Privatfahrern bestritten, macht ihr kein anderes Auto ihren Führungsanspruch in der Klasse der 1500 ccm streitig. Mehr noch, die Aprilia nimmt noch lange nach ihrer Produktionseinstellung den ersten Patz ein.
Die Beendigung der Fertigung der Aprilia löst bei den begeisterten Lancisti und auch im Unternehmen selbst tiefes Bedauern aus. Im Kofferraum der letzten Aprilia am 22. Oktober 1949 wird ein anonymer Brief gefunden (wahrscheinlich von einem Arbeiter verfasst): „Liebe Aprilia, während ich von Dir Abschied nehme, entbiete ich Dir noch einmal einen ehrfurchtsvollen Gruß. Dein glorreicher Name hat es erreicht, sich in den größten Metropolen zu behaupten. Dies ist der Verdienst eines großen Pioniers, der zwar hingeschieden ist, dessen Name jedoch immer in uns lebt. Die Arbeiter dieses großen Werkes wünschen und erwarten, dass der Bruder, der eben geboren wird, eben so viel Ruhm erringt und mehr Verständnis zum Wohle aller findet.“
Quelle von Text und Fotos:
Lancia – Fortschritt aus Tradition, Editoriale Domus / Weernink, La Lancia /Jamieson, Lancia Lambda/ Oldtimer Markt 3-94/ Motor Klassik 1-2006/ Un secolo di Auto Italiana – Routeclassiche/ Die Geschichte Lancias, Lancia Pubblicità / Lancia – Autocar, Hamlyn Verlag/ Lancia – 100 Jahre Automobilgeschichte, Podszun Verlag/ Lancia – Auto Totaal, Uitgeverij Lekturama