Es war einmal die Firma CEMSA (Costruzioni Elettro Meccaniche di Saronno), ein Unternehmen, das 1925 vom Ingenieur Nicola Romeo und der Bank „Credit Italiano“ gegründet wurde. 1935 wurde es von der IRI übernommen und ein Jahr später an den Luftfahrtingenieur Gianni Caproni verkauft. Die Firma Caproni, gegründet 1910, war ein Luftwaffen- und Waffenbauunternehmen. So stellte CEMSA während des Zweiten Weltkriegs leichte Waffen her. Doch nach dem Krieg musste ein neuer Produktionsweg gefunden werden. Caproni begann CEMSA auf die Automobilproduktion auszurichten, in der Hoffnung, damit die Krise der Nachkriegszeit bewältigen zu können. Dazu brauchte es Ingenieure. Und die fand Caproni bei Fiat, einer davon war Antonio Fessia. Die Art und Weise, wie Fessia den Fiat – Mitarbeitern seine neue berufliche Laufbahn ankündigte, war gelinde gesagt überraschend: Eines Morgens, Ende März stürmte er in das Büro des Ingenieurs Dante Giacosa im fünften Stock des Fiat Mirafiori-Werks. Er hatte weder geklopft noch „Hallo“ gesagt, sondern gleich laut und deutlich geschrien: „Ich bin für Frontantrieb!“ Dann knallte er die Tür zu und ging. Erst am nächsten Tag erfuhren Giacosa und seine Kollegen, dass er zurückgetreten war, um sich der Caproni-Gruppe anzuschließen. So begab es sich also, dass Ingenieur Antonio Fessia für CEMSA-Caproni den sehr modernen Mittelklassewagen CEMSA F.11 mit revolutionären technischen Eigenschaften entwickelte: 1,1 4-Zylinder Boxermotor, Frontantrieb, Hebelgetriebe am Lenkrad, Vorder- und Hinterradaufhängung mit unabhängigen Rädern. 10 Limousinen wurden produziert, und die F.11 debütierte am 34. Pariser Autosalon und wurde auch 1949 auf der Turiner Motor Show vorgestellt. In beiden Fällen stieß man auf großes Interesse. Doch zu einer Serienproduktion kam es nicht. Das Märchen war zu Ende. Die Schwierigkeiten der Nachkriegskrise verschlimmerten sich, CEMSA wurde von der Caproni-Gruppe geschlossen und das F.11 Programm gestrichen. Fünf Jahre später, 1953, erwarb die belgische Firma „Minerva“ das Design des F.11 mit der Absicht, es in Produktion zu bringen. Aber auch dieses Projekt scheiterte aufgrund seiner Ähnlichkeit mit dem Hotchkiss-Gregoire.
Als später Lancia die Lücke zwischen der kleinen Appia und der großen Flaminia mit einer Mittelklasselimousine füllen wollte, erinnerte sich Antonio Fessia an die Pläne der F.11. Und diesmal klappte es mit der Serienproduktion:
Die Lancia Flavia debütierte 1960 mit 1500 ccm³ und 90 PS auf dem Turiner Automobilsalon. Mit ihr führte Prof. Fessia bei Lancia gleichzeitig den Vorderradantrieb, den Boxer-Motor und Scheibenbremsen an allen vier Rädern ein.
1961 folgte das zeitlos-elegante 2+2 Coupé von Pininfarina. Doch das Coupé konnte auf Anhieb nicht überzeugen. Die Fahrleistung war zwar besser als die der Limousine, dafür verlangte es aber für das maximale Drehmoment eine zu hochtourige Fahrweise.
Die Lösung wären größere Kolben und Zylinderlaufbuchsen. Und genau das, fand man bei der Tuner-Werkstatt Nardi. Dieses Tuning wurde offiziell von Lancia übernommen und im Kundendienst zu der sogenannten „Variante 1005“ Ausführung umgebaut. Zusätzlich wurden die beiden Doppelvergaser gegen den langen, drehmomentsteigernden Ansaugkrümmer und den Registervergaser der Limousine ersetzt. Mit dieser Motorausführung kamen 1962 schließlich noch zwei Sondermodelle auf den Markt. Die von Vignale gebaute Convertibile und die exotische Flavia Sport von Zagato. Nach der Erfahrung mit dem „Variante 1005“ Konzept brachte Lancia ein Jahr später ein neues Modell mit 1800 ccm³ heraus. Nun wurden auch die Sondermodelle mit dem 1,8 Liter Motor ausgestattet. Und als 1965 noch der Iniezione mit dem deutschen Kugelfischer-System erschien, konnten auch die Sondermodelle mit Benzineinspritzung erworben werden.
1967 erschien die 2. Serie in neuer Form. Die kantigen Konturen wurden runder, die Scheinwerfer und Heckleuchten waren etwas niedriger eingebaut und mit einer Chromleiste umfasst, Einzelsitze statt Sitzbank und Mittelschaltung statt Lenkradschaltung. Kurz darauf erschienen noch luxuriöse LX- Modelle. Als Zusatzausstattung wurden beheizte Heckscheiben, Bodenteppiche statt Gummimatten, Radkappen in Wagenfarbe und Servolenkung angeboten. 1969 debütierte in Genua auch das Zweitserien-Coupé von Pininfarina mit 2000 ccm³.
Ein Jahr später, 1970, gestaltete Pietro Castagnero, Leiter der Lancia-Stylingabteilung die Flavia komplett neu. Innen wie außen. So wurde die Flavia unter dem Namen 2000 (2-Liter Motor) noch eine Zeit lang fortgesetzt. Der neugestaltete schildförmige Kühlergrill erinnerte an die Aurelia, serienmäßig gab es Vorhänge im Heckfenster, luxuriöse Veloursstoffe, rechteckige Instrumente, Servolenkung und sogar optional eine Klimaanlage. 1971 folgte das Pininfarina Coupé und 1972 die letzten Versionen mit 5-Gang Getriebe und elektronischer Einspritzung: die Berlina 2000i.e. und das Coupé 2000 HF. 1974 endete die Produktion der Flavia.
Textquellen: Frei nach Marco Visani, www.gazoline.net / Wim Oude Weernink, Lancia, Motorbuchverlag